Ein Interview mit CRISTIAN DÖRGE über seine Arbeit als Musiker und insbesondere über seine jüngsten Veröffentlichungen MEIN KÖRPER IST KAFKAESK, VERSTÄRKER und MEDUSA.

KKM: Dein neues Mini-Album Medusa erschien am 3. Juni 2024. Erzähl uns doch kurz, wovon das Album handelt…

Das Warten für die Fans des Ausnahmekünstlers Christian Dörge hat ein Ende!!!

Ich freue mich ganz besonders, dass Christian sich die Zeit genommen hat mir ein paar Fragen zu beantworten. Nicht zuletzt, weil ich schon seit Syria-Tagen seine Musik sehr mag und ihn und sein Schaffen stets verfolge. :-)

Christian Dörge: Medusa hat eine recht ungewöhnliche Vorgeschichte… zumindest gemessen an meiner üblichen Arbeitsweise.

Ich habe erst im Dezember 2023 das Album Halbes Superego veröffentlicht – ein sehr zeit- und arbeitsaufwändiges Projekt, aber auch ein Album, das ich für überaus gelungen halte, formal ebenso wie inhaltlich. Und eigentlich wäre es das Gebot der Stunde gewesen, Atem zu holen, die (nur sprichwörtlichen) Batterien wieder aufzuladen, vielleicht die eigene Perspektive zu justieren. Ich hatte jedoch Glück: Es ergab sich die Gelegenheit, mein Musiktheater-Stück Mein Körper ist kafkaesk unter Live-Bedingungen (vulgo: auf der Bühne) aufzunehmen, was ich vielfacher Hinsicht eine Herausforderung war: technisch, körperlich und hinsichtlich der Kontinuität. Die Aufnahmen plus Post-Produktion (wie z. B. Studio-Overdubs) haben knapp zweieinhalb Monate gedauert und unterschieden sich fundamental von allem, was ich seit 1992 als Musiker/Performer geschrieben und aufgenommen habe. Gleichzeitig ist dieses Theaterstück inhaltlich gewissermaßen ‘theoretisch’, ich bin emotional weit weniger involviert als z. B. bei den Songs der Alben Kafkaland und Halbes Superego.

Mein Körper ist kafkaesk wurde im März d. J. veröffentlicht, und ich war tatsächlich begierig darauf, weiterzuarbeiten, wieder kreativ zu sein, um nicht den Faden zu verlieren. Also schrieb in den Song Medusa (wobei ‘Song’ hier eher selbsterklärend ist und nicht der klassischen Definition dieses Wortes folgt), der im Grunde einem Theater-Monolog gleichkommt und inhaltlich in erster Linie künstlerisch bleibt; die emotionale Komponente wird dadurch zwangsläufig in Teilen reduziert. Gleiches gilt für die weiteren Songs, die ich für das Mini-Album schrieb – mit Ausnahme von Jeder, den ich nicht liebe, ist nicht tot –, und nach der sehr theoretischen Arbeit an Mein Körper ist kafkaesk war ich zum ersten Mal in meiner künstlerischen Karriere gezwungen, tatsächlich innezuhalten, die Dinge liegen zu lassen und statt einen Schritt nach vorn zunächst einen Schritt zur Seite zu gehen: So habe ich im April – obwohl die Medusa-E.P. bereits vollständig aufgenommen war – vier Songs für die Single Verstärker aufgenommen, die Anfang Mai veröffentlicht wurde. Diese vier Songs fokussieren sich auf das Emotionale, das Getriebene, auf die Abgründe, die mich als Mensch beschäftigen… also auf viel Dunkles, viel Schmerzhaftes, Kathartisches. Und dieser Schritt war – wie sich herausstellte – absolut notwendig und unausweichlich; ich musste mich mir selbst erst wieder nähern, um darauf aufbauend ein besseres Verständnis für die eher diskursive Medusa-E.P. zu erlangen; die Balance zwischen Gefühl und Kunst musste wiederhergestellt werden. Ohne Verstärker… wäre mir das vermutlich nicht gelungen.

Indes hat Medusa in seiner Gesamtheit keine konkrete Rahmenhandlung, obwohl sich die Songs Die kalte Braut der Demokratie, Schach mit Lenin, Beim Abendspaziergang (World-War-III-Installation) und Der Staat (verkürzt) durch ihre politische Sinnfindung (die sich offensichtlich in den Titel widerspiegelt) untereinander verknüpfen. Im Kern in dieses Mini-Album ein künstlerisches, ein emotionales aber vor allem ein gesellschaftskritisches Statement, welches einen Bogen spannt von der Antike über das frühe 20. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart.

Die neue E. P. MEDUSA (Black October-Records/Nordwasser-Records) weltweit als Download und als Streaming bei 200+ Shops erhältlich, u. a. bei folgenden Anbietern/Plattformen:

SPOTIFY: https://open.spotify.com/…/album/6CeW1CBOT8hPejmAS33xZb…

APPLE MUSIC: https://music.apple.com/de/album/medusa/1750796374…

iTUNES: https://music.apple.com/de/album/medusa/1750796374

AMAZON: https://music.amazon.de/albums/B0D6D4J81C?tag=fndcmpgns-20

DEEZER: https://www.deezer.com/de/album/598299742

YOUTUBE: https://www.youtube.com/playlist…

BANDCAMP: https://christiandoerge.bandcamp.com/album/medusa

KKM: Zwischen deinen Alben Cyberpunk (2016) und Kafkaland (2023) ist eine lange Zeit vergangen. Was hast Du in dieser Zeit getan?

Christian Dörge: Die Entscheidung, meine musikalische Karriere nach Veröffentlichung von Cyberpunk auf unbestimmte Zeit ruhen zu lassen, habe ich eher impulsiv (und somit denkbar untypisch für mich) getroffen; damals, vor acht Jahren, erreichte (nach meiner Wahrnehmung) das Problem der Bootleg-CDs/der illegalen Veröffentlichung meiner Werke durch Dritte weltweit ein derartiges Ausmaß, dass die Sache – wirtschaftlich ebenso wie künstlerisch – zum ernsthaften Problem wurde. Du musst bedenken: Hat man als Künstler nicht den Markt-Status wie beispielsweise Metallica oder Depeche Mode, ist es vollkommen aussichtslos, dem Problem juristisch Herr zu werden. Im Klartext: Ich durfte tatenlos dabei zusehen, wie sich Dritte in irgendwelchen fernen Ländern (insbesondere in Südamerika, Russland, China etc.) an meiner Arbeit eine goldene Nase verdienen, indem sie 1:1-CD-Repliken meiner Alben auf den Markt warfen oder diese via irgendwelcher höchst dubioser Streaming-/Download-Portale feilboten. Es war schließlich für mich ein Punkt erreicht… an dem diese Zustände für mich unerträglich und wirtschaftlich immens schädlich wurden, und ich habe buchstäblich von einem Tag auf den anderen Plattenvertrag und Vertriebsverträge gekündigt, ließ meine Alben (damals um die 30 verschiedene Titel) aus dem Handel nehmen und zog mich einigermaßen desillusioniert zurück.

Diese Entscheidung… war weniger für mich als für das involvierte Umfeld ein… ja, ein Schock. Die Plattenfirma war überhaupt nicht begeistert, die Musiker, mit denen ich seit ca. 2002 zusammenarbeite, waren natürlich wie vor den Kopf gestoßen. All das… hätte zu einer überaus heiklen Situation führen können, doch letztlich wurden die Gründe, welche mich zu diesem drastischen Schritt veranlasst haben, respektiert. Es gab gottlob intern keinen Streit. Diskussionen, gewiss, aber keine bad vibes.

Untätig… war ich in den folgenden Jahren jedoch keineswegs: Ich habe meine Verlage auf- und ausgebaut, habe – seltsamerweise zu meinem eigenen Erstaunen – eine ‘Neben-Karriere’ als Krimi-Autor begonnen und eine ganze Reihe entsprechender Romane geschrieben und veröffentlicht. Je mehr Zeit jedoch verging… umso mehr fehlte mir das zu tun, was mir am ehesten entspricht und was eigentlich mein ‘Kerngeschäft’ ist. Allerdings mussten hierfür zunächst die grundsätzlichen Voraussetzungen geschaffen werden, d. h., sollte ich neue Musik produzieren und veröffentlichen, dann gemäß meiner Vorstellungen, auch und insbesondere hinsichtlich der Kontrolle, die ich über das Wie und Warum meiner Werke ausüben will und muss. Ein Weniger wäre Unsinn, insbesondere in einer Zeit, in der Musik zu einem beliebigen Produkt verkommen ist, das immer und überall (und am besten kostenlos) verfügbar sein soll. Für mich, der ich im Grunde immer Album-Künstler war, ist die digitale Wüste… ein eher lebensfeindlicher Ort. Eine Welt, in der ich mich ausschließlich auf meine ganz eigene Weise zu positionieren vermag; das galt es zu berücksichtigen.

Im Januar 2022 erhielt ich schließlich ein Angebot, meinen Back-Catalogue sukzessive digital wiederzuveröffentlichen; Vertrags-Inhalt waren außerdem acht neue Alben, was in der Tat ein hübscher Ausgangspunkt für Weiteres abbildete. Mein erster Reflex war trotzdem: nein, auf gar keinen Fall. Aber die Firma blieb hartnäckig, und nach fast einem Jahr des Verhandelns habe ich im November 2022 einen neuen Vertrag beim schwedischen Label Nordwasser-Records unterschrieben, der weitestgehend meinen Vorstellungen und Anforderungen entspricht.

Danach ging alles… erstaunlich reibungslos und schnell: Es wurden zunächst meine Alben Lycia und Antiphon sowie die Syria-Alben A Gift From Culture, Metroland – The Complete Picture und Slow Night wiederveröffentlicht, und im Februar 2023 erschien mein erstes neues musikalisches Material seit sieben Jahren: die Single Dancing In Berlin und das Album Kafkaland.

KKM: Wieviel Arbeit hattest du an dem Mini-Album, und hat dich jemand unterstützt?

Christian Dörge: Seit den Aufnahmen für mein Album Halbes Superego im vergangenen Jahr produziere ich meine Singles und Alben nicht mehr selbst; nach 31 Jahren habe ich mich dazu entschlossen, die Rolle des Produzenten abzulegen und in die Hände einer Person zu legen, mit der ich bereits seit 23 Jahren harmonisch und erfolgreich zusammenarbeite: in die Hände von Karen Park. Sie hat auch Medusa produziert, was mich natürlich spürbar entlastet und mir u. a. die Möglichkeit gibt, mich auf die Musik und auch die Texte zu konzentrieren, den Blickwinkel zu verändern.

Dennoch erledige weiterhin ich das gros der Arbeit, weil ich sämtliche Songs schreibe und eben auch alle Instrumente selbst einspiele und die Stücke abmische.

Die Aufnahmen für Medusa haben mehr als zwei Monate in Anspruch genommen, weil ich – angeregt durch meine Produzentin – viel experimentiert habe und einen anderen Zugang zu meiner Stimme erarbeiten musste, etwas, das nicht immer leicht ist. Eine weitere Herausforderung war: Medusa wurde in einem anderen Studio abgemischt, also nicht in dem Studio, in welchem das Mini-Album aufgenommen wurde; auch dies ging auf Initiative meiner Produzentin zurück, sie wollte mich bewusst aus meiner Komfort-Zone herausholen (was ja im Grunde auch ihr Job ist).

Letztlich bin ich – von der Produktion abgesehen – in alles mehr oder weniger vollständig involviert, bis hin zum Mastering, zur Gestaltung des Booklets undsoweiter. Allein: Ich mache diesen Job nun schon seit 1992, und es ist ein wunderbarer Job, wenngleich er viel von mir fordert, insofern ist alles so, wie es sein sollte.

KKM: Das ist ja nun bei weitem nicht dein erstes Album. Ist die Aufregung trotzdem immer noch groß?

Christian Dörge: Aufregung ist vermutlich nicht das zutreffende Wort… aufgeregt war ich bei den Aufnahmen zu Kafkaland, einfach weil ich damals schon für sehr, sehr lange Zeit kein Tonstudio von innen gesehen hatte (überspitzt formuliert). Die Aufnahmen zu Medusa waren Teil eines gewissermaßen ‘fließendes Prozesses’, dem ich seit Ende 2022 folge, allerdings ist all das kein Selbstläufer, war es nie, denn ich bin geneigt, mich stets zu fordern, weiterzugehen, die Dinge in Bewegung zu halten, wodurch eine Art von Grundanspannung entsteht. Dieser Zustand wird dadurch verstärkt, dass meine Musik alles andere als konsensfähig oder konsenswillig ist, der Dissens ist bei mir programmatisch, und ich setze das immer konsequenter um – vergleiche Songs wie Dancing in Berlin (2022) mit einem Song wie Phantasmagorien (2023) oder eben Medusa (2024), dann weißt du, was ich meine.

KKM: Welche Musik hast Du im Schaffensprozess privat gehört, und hat diese Musik das Album vielleicht auch ein Stück weit beeinflusst?

Christian Dörge: Das ist tatsächlich eine interessante Frage – interessant auch deswegen, weil ich mir darüber resp. über entsprechende Zusammenhänge noch nie Gedanken gemacht habe (Irrtum vorbehalten).

Nach meiner Wahrnehmung höre ich ungemein verschiedenartige Musik, mein Spektrum ist denkbar weit gefasst. Wenn ich selbst an eigener Musik arbeite verändert sich nicht die Art der Musik, die ich höre, aber ich höre zweifellos weniger Musik, wenn ich Songs schreibe/aufnehme, doch dies liegt in der Natur der Sache: Nach zwölf Stunden im Studio habe ich in der Regel keine Lust mehr, Musik zu hören, und ich muss meinen Sinnen ganz bewusst eine Pause gönnen.

Tja, was habe ich in den vergangenen Monaten angehört? Ich erinnere mich an diverse Alben von Nick Cave, an ein Album von No More, aber eben auch an alles Mögliche – von Metallica über Oasis bis Yello und Orchestral Manoeuvres In The Dark; und das neue Album von Julianne Regan und Tim Bricheno hat mir sehr gut gefallen. Kreativ beeinflusst mich diese Musik insgesamt eher nicht, aber mitunter erlausche ich irgendwelche Production- oder Mixing-Tricks, es sind also eher technische Dinge, die ich gewissermaßen ‘mitnehme’.

KKM: Ist es dir schwerer gefallen, am neuen Album zu arbeiten? Hat es dich in deiner Kreativität beeinträchtigt?

Christian Dörge: Wie schon erwähnt musste ich zunächst die theoretische Ebene verlassen – weswegen ich noch während der Produktion von Medusa zunächst die Single Verstärker geschrieben und aufgenommen habe –, dadurch wurden die Aufnahmen nicht schwieriger, sondern letztlich fokussierter und klarer. Natürlich entstehen durch solche Imbalancen zwangsläufig Selbstzweifel, Unsicherheiten, aber… Verstärker hat sich als enorm heilsam erwiesen und hat letztlich der Arbeit an Medusa vernehmbar genützt.

Meine Kreativität wurde dadurch nicht beeinträchtigt – der vorübergehende Schritt zur Seite hat die Kreativität eher gefördert, den Blick geschärft.

7. Hast du einen persönlichen Lieblingssong auf dem aktuellen Mini-Album? Wenn ja, welcher ist es und warum?

Christian Dörge: Wiederum: gute Frage. Auch darüber habe ich bis heute nicht nachgegrübelt. Ich mag den Titelsong sehr gern – einfach weil’s ein geradezu epischer Theater-Monolog ist. Müsste ich wählen, würde mir vermutlich Der Staat (verkürzt) in den Sinn kommen. Warum? Der Text ist ziemlich auf den Punkt und zugleich ausgesprochen lyrisch, und die Musik (heißt: die Vertonung) kommt dem Text inhaltlich nicht nur nahe, sondern verstärkt seine Wirkung (was der Sinn jeglicher Literatur-Vertonung sein sollte). Und ich glaube, dieser Song ist auch ein bisschen gemein, was von Zeit zu Zeit durchaus erforderlich ist.

KKM: Wie kamst du auf das Cover und den Titel des Mini-Albums?

Christian Dörge: Der Titel ergab sich dadurch, dass Medusa aus dem kommenden Album als erste Single ausgekoppelt werden sollte – Medusa kann auch für sich stehen, außerhalb des kompletten Albums, und darum geht es letztlich bei der recht speziellen Art und Weise meiner Musik, denn im klassischen Sinne ist es nicht erforderlich, im Kontext dieser Musik Singles zu veröffentlichen.

Das Cover-Bild hat der spanische Künstler 8bitpixeldomina entworfen; er ist mit meiner Musik vertraut, und da ich recht genaue Vorstellung des Cover-Motivs hatte, konnte ich ihm perfekt zuarbeiten. Und mit dem, was er erschaffen hat, bin ich außerordentlich zufrieden.

KKM: Fakt ist, es ist wirklich toll und wichtig, dass du da bist. Das du uns weiter »auf die Sprünge hilfst« und wir etwas haben, dass uns definitiv auf ganz andere musikalische Wege hinweist. Hast du den gleichen Eindruck? Wie ist die Resonanz?

Christian Dörge: Zunächst einmal: dankeschön!

Was soll ich sagen? Dieses ‘anders sein’ entspricht meiner künstlerische Natur, meiner Motivation; ich wurde dahingehend sozialisiert, dass man dem Gewöhnlichen, dem, auf das sich (vermeintlich) alle einigen können, so viel wie möglich entgegensetzt. Inwiefern sich dies durch mein Werk auf Dritte auswirkt… vermag ich nicht abschließend einzuschätzen, allerdings ist eine gewisse Kontinuität erkennbar: Seit über dreißig Jahren wissen meine Hörer, was sie erwartet – absurderweise nämlich das Unerwartbare und zugleich das Unterscheidbare, bewusste Brüche, vorsätzlicher Grenzgang. Oft genug schien es so, als könne man mich einordnen, doch stets habe ich im – hoffentlich – richtigen Moment künstlerische Haken geschlagen; besonders augenfällig ist dies, wenn man meine Alben Lycia und Antiphon vergleicht oder sich die Syria-Alben betrachtet, die zwar einen hohen Wiedererkennungswert haben, sich jedoch gleichzeitig oft fundamental voneinander unterscheiden: Man höre sich nur einigermaßen aufmerksam die Alben der Jahre 1994 bis 2012 an (und hier insbesondere A Gift From Culture, Metroland, Slow Night, The Return Of Saturn, Sixties Alien Love Story und American Gothic), die im Grunde in ihrer Folgerichtigkeit der Alptraum jeder Plattenfirma sind. Hier geht es allerdings nicht darum sich ‘ständig neu zu erfinden’ (ohnehin ein fürchterlich einfältiges Wortkonstrukt), sondern darum, den Mechanismen des Musikgeschäfts zu entgehen, denn allzu großer Konsens ist der Feind jeglicher wirklich unabhängigen Kreativität. Außerdem… wiederhole ich mich künstlerisch nur höchst ungern. Und irgendetwas scheine ich richtig zu machen; ich bin immer noch da, meine Platten verkaufen sich gut, sogar Konzerte – wir haben 2023 zum ersten Mal seit über zehn Jahren wieder live gespielt (einmal in Leeds, einmal in Linköping) – funktionieren hervorragend und sind bestens besucht.

Formal hat sich die Resonanz im Laufe der Dekaden natürlich verändert – so, wie das Internet alles verändert hat. Aber die Resonanz ist noch immer immens, die Diskussionen sind interessant, und ich bin immer wieder erstaunt und geschmeichelt darüber, welche Geschichten mir im Schatten meiner Musik zugetragen werden. Offenkundig habe ich eine konstante und interessierte Hörerschaft, es bleibt abzuwarten, wie sich die Dinge entwickeln werden.

Nun noch ein paar sehr persönliche Fragen…

KKM: Wie würdest du dich am ehesten beschreiben?

Christian Dörge: Eine Frage, die leicht und oft gestellt wird, die aber schwierig zu beantworten ist. Entspreche ich dem, wie ich mich sich selbst sehe oder dem, wie Dritte mich sehen? Einigen kann man sich vielleicht auf folgendes: Ich bin fleißig, diszipliniert, strukturiert, ehrgeizig, loyal… ich bin ein emotionaler, durchaus leidenschaftlicher Mensch, gleichzeitig absolut unhedonistisch (was im unmittelbaren Widerspruch zum Künstler-Sein steht, scheint’s), bin ruhig, unaufgeregt, gelegentlich humorvoll und (wenn’s gut läuft) geistreich. Letztlich hoffe ich, ein guter und erträglicher Zeitgenosse zu sein (obwohl es vermutlich tendenziell langweilig ist, wenn ich versuche, mich selbst zu analysieren).

KKM Hast du ein Lieblingszitat?

Christian Dörge: Habe ich tatsächlich – »Ein Fluss, der aus dem Werdenden hervorgeht, ein reißender Strom ist die Zeit.« (Marc Aurel)

KKM: Betrachtest du es als Privileg, Künstler zu sein?

Christian Dörge: Aber ja. Könnte es einen besseren Beruf geben? Ich kann jederzeit genau das tun, was mir vorschwebt, kann es mir leisten, als Künstler ausgesprochen vielseitig zu sein, ich muss keine Kompromisse eingehen, niemand schreibt mir etwas vor. Insofern bin ich zweifellos privilegiert, allerdings darf man nicht vergessen: All das habe ich mir selbst erarbeitet.

KKM: Gibt es eine Angst, die dich als Künstler umtreibt?

Christian Dörge: Die Angst vor Bedeutungslosigkeit.

KKM: Was dominiert dein Künstler-Sein?

Christian Dörge: Kontinuität. Ein gewisser Weitblick. Die Fähigkeit, das, was mich umgibt, in Kunst umzusetzen.

KKM: Was unterscheidet den Menschen…vom Künstler…?

Christian Dörge: Als Künstler bin ich eher kompromisslos, als Mensch indes ist jeglicher Kompromiss eine wesentliche Voraussetzung für ein freundliches Miteinander. Ich glaube daher, ich bin als Mensch bedeutend umgänglicher als ich’s als Künstler bin.

KKM: Helden? Vorbilder? Antihelden?

Christian Dörge: Helden und Heldinnen… jede Menge: James Joyce, Jean Cocteau, Franz Kafka, Albert Camus, William Gibson, Mylene Farmer, Michael Moorcock, Wayne Hussey, Liam Gallagher, Midge Ure, Nick Cave, Blixa Bargeld, Rainald Goetz, Robbie Williams (kein Witz), Jim & Bill Reid, Pat Benatar, Boris Blank & Dieter Meier, Phillip Boa…

Bei Vorbildern wird’s schwieriger, denn ich versuche selten, jemandem künstlerisch gleichzukommen. Menschlich ist mein Vorbild allerdings: mein wunderbarer Vater.

Anti-Helden… gewiss, ja, aber darüber hülle ich besser den Mantel des Mysteriums. Jene, die ich nicht ausstehen kann, haben zweifellos davon Kenntnis.

KKM: Was magst Du an Dir?

Christian Dörge: Meine Arbeits-Ethik, Geduld und Ausdauer, Zielstrebigkeit. Und ich mag es, Vater zu sein.

KKM: Gibt es Tage, an denen Du Dich nicht ausstehen kannst?

Christian Dörge: Absolut, klar. Aber das ist in Ordnung und sogar nützlich, denn auf diese Weise kommt mir die Fähigkeit zur Selbstkritik nicht abhanden. Und grundsätzlich… würde ich das Leben gern leichter nehmen.

KKM: Was schätzt Du an anderen Menschen?

Christian Dörge: Freundlichkeit, Aufrichtigkeit, Kultiviertheit, Belesenheit. Ich mag und bewundere Menschen, die interessant sind und interessant bleiben; und ich mag humorvolle Menschen. Ich selbst verfüge zwar durchaus über Humor, dennoch fürchte ich, dass ich nicht witzig bin.

KKM: Wer und was ist dir besonders zuwider?

Christian Dörge: Ich verabscheue unaufrichtige, intrigante und bösartige Menschen; Menschen, die nur aus Gift und Galle bestehen und die ihre Lebensaufgabe darin sehen, andere Menschen herabzusetzen und/oder ihnen vorsätzlich und absichtsvoll Schaden zuzufügen. Leider ist das Internet der perfekte Tummelplatz für solche Kreaturen.

KKM: Hast du es je bereut, Künstler geworden zu sein?

Christian Dörge: Nein. Ich bin Künstler. Alles andere war kolossal absurd. Ich bereue allenfalls gewisse vertragliche Situationen aus den 90ern, und ich finde es im Rückblick als bedauerlich, dass ich manche Menschen, mit denen ich – wiederum in den 90ern – zusammengearbeitet habe, nie wirklich dahingehend ins Bild gesetzt habe, wie immens ich sie schätze. Ein menschliches Versäumnis, zweifellos, eines, das ich nur in Teilen lösen konnte, denn viele der Menschen ‘von damals’ sind irgendwie… verschwunden. Leider.

KKM: Was bedeutet deine Arbeit für Dich?

Christian Dörge: Ich definiere mich größtenteils durch meine Arbeit; ohne mein künstlerisches Tun wäre ich einigermaßen leer. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es sich anfühlen würde, nicht Künstler zu sein.

Und ganz pragmatisch: Kunst ist mein – entschuldige bitte das altmodische Wort – Broterwerb, meine Arbeit ist folglich meine Lebensgrundlage; es gibt (vernünftigerweise) auch einen Plan B, aber den musste ich bis dato nicht aktivieren, was ebenso beruhigend wie erfreulich ist.

KKM: Welche deiner Träume haben sich bisher noch nicht erfüllt?

Christian Dörge: Heikle Frage, denn vermutlich ist meine Antwort eher unbefriedigend und wenig glamourös – denn ich setze als Künstler stets mit formvollendeter Konsequenz genau das um, was mir aktuell vorschwebt; demgemäß arbeite ich sehr hart an mir, sobald neue Herausforderungen anstehen, damit die Dinge auch wirklich passieren; ich verschwende weder Zeit noch Ressourcen. Im Grunde ist es weniger eine Frage eines Traumes, sondern eine Frage des nächsten Zieles, das ich mir selbst setze. Und ich neige dazu, mich in der Realität zu bewegen, Träume (Zustände also, die das Irreale verstärken) sind meine Sache nicht.

24. Was ist dein größter persönlicher Wunsch?

Christian Dörge: Meine Wünsche (und Hoffnungen) berühren eher den privaten Bereich, wie z. B. das, was ich mir für meine Tochter erhoffe und was ich ihr wünsche. Für mich selbst… habe ich eigentlich keine konkreten Wünsche… außer vielleicht, dass ich mir noch genügend Lebenszeit ersehne, um all das umzusetzen, was ich als Künstler für die Zukunft erwäge – und ich möchte das Leben meiner Tochter so lange wie möglich unterstützend und liebevoll begleiten, denn sie hat ihr Leben und ihr Wirken noch vor sich; ich habe mein Leben bereits gelebt.

Ich bedanke mich bei dir für das Interview und wünsche dir den Erfolg für die Scheibe, den sie verdient hat. :-)

Die letzten Worte in diesem Interview überlasse ich dir.

Christian Dörge: Ich danke dir für dein Interesse und für deine Mühen, ich freue mich sehr, meine Arbeit hier vorstellen zu dürfen.

geschrieben von C.T. mit freundlicher und inspirierender Unterstützung des Herrn Dörge!

Am 31. Juli 2024 erscheint CHRISTIAN DÖRGEs neues Mini-Album SENSORIUM (Nordwasser-Records/Black October-Records) als zweiter Vorbote des neuen Albums LE SINISTRE.

Das Cover-Artwork stammt vom spanischen Künstler 8bitpixeldomina.

Das Mini-Album enthält die folgenden Stücke:

1.) SENSORIUM 80

2.) AKADEMIE DES KRIEGES

3.) FAST EIN ÖDIPUS MEINE AUSLÖSCHUNG II

4.) LETZTE WÜSTE

5.) FRÄULEIN SALOME IN DER VISCARDIGASSE

SENSORIUM wurde produziert von Karen Park.

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WEB: https://www.christiandoerge.de/